Der Görli ist vieles, sowohl im negativen als auch im positiven Sinne. Viele Menschen nutzen den Görli bereits: zum Chillen, zum Schlittenfahren, Kita-Gruppen und Familien zum Spielen, zum Grillen, zum Sport treiben, als Treffpunkt… Er könnte – gerade im positiven Sinn – aber noch vieles mehr sein. Dafür muss er jedoch ein öffentlicher Raum für alle bleiben. Und er sollte noch gemeinschaftlicher gestaltet werden, um ein wirklich „offener öffentlicher Raum“ (Stefanie Bock) zu werden.
Darauf könnte man das Ergebnis des Ersten Sozialgipfels, der am 3.9.2024 im Görlitzer Park stattfand, herunterbrechen. Das ist alles natürlich nicht ganz so einfach und die eine schnelle Lösung für die Probleme gibt es auch nicht. Einigkeit bestand aber in der Ansicht, dass ein Zaun um den Park keine Lösung ist. Dieser Plan – ein symbolischer Schnellschuss des schwarz-roten Senats – würde die Lage im Park und in den umliegenden Kiezen nur verschlimmern. Das ist auch die Einschätzung von Expert:innen: Die Kriminologen Tobias Singelnstein und Thomas Veltes konnten solche Verdrängungsstrategien und ihr Scheitern bereits in anderen Städten beobachten.
Aber was brauchen wir im und am Görli wirklich? Was kann helfen, den Park für alle noch so unterschiedlichen Nutzer:innen-Gruppen attraktiver zu machen? Und was muss passieren, damit der Park wieder stärker von den Personengruppen im Kiez genutzt wird, die sich im Moment dort nicht wohlfühlen? Diese Fragen wurden auf dem fast vierstündigen Sozialgipfel intensiv diskutiert. Mit dabei waren neben Anwohner:innen zum Park auch externe Expert:innen, die aus unterschiedlichen Perspektiven auf die Probleme und mögliche Lösungen blickten.
Die Kriminalitätsbrille öfter absetzen
Die Menschen in den Kiezen rund um den Görli sind sich der Probleme und Konflikte im und um den Park durchaus bewusst. Stadtweit und in den Medien hat sich jedoch seit einigen Jahren eine Debatte um den Görli verselbstständigt, in der der Park vorwiegend aus der Perspektive von Sicherheit und Kriminalität diskutiert wird, so der Kriminologe Prof. Dr. Tobias Singelnstein von der Uni Frankfurt auf dem Sozialgipfel. Getragen durch Akteur:innen wie Kai Wegner und Iris Spranger findet „eine politische Debatte statt, die eigentlich nicht an der Lösung der Sachfragen vor Ort interessiert ist, sondern vor allem symbolische Maßnahmen generiert, um die öffentliche Debatte zufriedenzustellen und zu zeigen, dass man etwas unternimmt“.
Der Görlitzer Park und Teile des Wrangelkiezes werden als „kriminalitätsbelasteter Ort“ gelabelt. Straftaten werden durch die Polizei gesondert statistisch erfasst und Polizeikräfte dürfen Personen verdachtsunabhängig kontrollieren und durchsuchen. Das führt zu einem Ansteig in der polizeilichen Krinimalitätsstatistik (PKS), denn wenn mehr Polizei mehr Kontrollen durchführt, steigen auch die Zahlen in den Statistiken1.
Eng damit verbunden ist die Praxis des Racial Profiling, also der Kontrollen nach rassistischen Merkmalen. Diese Praxis ist zwar verboten, im Park jedoch täglich zu beobachten. Dieses „Kriminalisieren“ von Problemen (und damit Menschen) stellt ein allgemeines gesellschaftliches Phänomen dar, so Kriminologe Singelnstein: Das bürgerliche Sicherheitsgefühl erhält im öffentlichen Diskurs ein immer größeres Gewicht und bestimmt die Politik – unabhängig davon, wie die objektiven Zahlen in Bezug auf Kriminalität sind.
Doch anstatt Unsicherheit und Angst zu nehmen, versuchen Polizei und Kriminalpolitik, subjektive Sicherheit mit Maßnahmen zu beeinflussen, die auf objektive Faktoren gerichtet sind (etwa: ein Zaun soll die nun kriminalisierten Menschen davon abhalten, im Park „kriminelle Dinge“ zu tun – und gleich fühlen sich alle anderen sicherer). Dadurch werden erst recht Bedrohungsszenarien erzeugt, anstatt einen differenzierten Blick auf soziale Probleme und gesellschaftliche Ursachen zu werfen.
Singelnstein plädiert dafür, eben nicht nur durch diese „Kriminalitäts- und Sicherheitsbrille“ auf den Park zu schauen. Vielmehr ist es mindestens genauso wichtig, die Situation von obdachlosen Menschen und Drogenkonsument:innen aus medizinischer Sicht zu betrachten, sich Nutzer:innenkonflikte aus stadtplanerischer Perspektive anzuschauen oder Verelendung und Verarmung sozialwissenschaftlich unter die Lupe zu nehmen.
Da die Politik unter Druck steht, schnell zu handeln, es aber keine schnellen Lösungen für die vielschichtigen Probleme gibt, kommen symbolische Maßnahmen wie ein Zaun ins Spiel.
Auf lokaler Ebene andere Perspektiven einzubeziehen, oder wie Singelnstein sagen würde „durch andere Brillen“ zu sehen, ist ein wichtiger Schritt auf der Suche nach nachhaltigen Lösungsstrategien. Zugleich betonte er die Chance von Initiativen und Bündnissen wie Görli zaunfrei, in diesen einseitigen Kriminalitäts- und Sicherheitsdiskurs zu intervenieren, gerade weil der Görli so stark in den Medien diskutiert wird und das Bündnis und dessen Partner:innen dort inzwischen Aufmerksamkeit erhalten.
Angsträume zurückerobern
Dr. Stephanie Bock, Stadtforscherin am Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin, warf auf dem Sozialgipfel einen feministischen Blick auf die Kriminalisierung des Parks und die so erzeugten Bedrohungsszenarien. Zwar stellt der Park (ein Park) für viele FLINTA*2 einen Angstraum dar. Hier ist aber relevant, Angsträume von Gewalträumen zu unterscheiden: Angsträume sind nicht automatisch Gewalträume. Die meiste Gewalt gegen FLINTA* findet im privaten Nahraum statt, ausgeübt durch Bekannte oder Familienmitglieder.
Im öffentlichen Raum, z. B. in Parks gehe es hingegen in Angsträumen meist um strukturelle Gefühle von Angst. Diese Angst bestehe und muss daher ernst genommen werden, da sie Menschen davon abhält, sich an bestimmten Orten aufzuhalten. Die Ursachen für Angst- und Gewalträume sind jedoch unterschiedlich und dürften nicht in einen Topf geworfen werden, so Stephanie Bock. Zudem besteht die Gefahr, dass Frauen und ihre Angst instrumentalisiert werden.
So ist ein häufiges Argument der Politik: Frauen haben Angst im dunklen Park, es müsse etwas getan – ein Zaun gebaut, der Park nachts geschlossen – werden. Die Stadtforscherin präzisiert: FLINTA* haben aber keine generelle Angst vor Parks oder Dunkelheit, sie haben Angst vor Gewalt. Und diese Angst schränkt ein und führt dazu, dass sich bestimmte Personengruppen wie Frauen, queere Menschen, ebenso People of Color oder Menschen mit Behinderung nicht mehr in öffentlichen Räumen wie Parks aufhalten.
Deshalb muss es ein Anliegen sein, angstbehaftete Räume umzugestalten. Aber in den Debatten um den Görli sollte immer auch darauf verwiesen werden, dass 1.) die meiste Gewalt für Frauen im Nahraum und meistens sogar im eigenen Zuhause stattfindet und 2.) queere Menschen die ansteigende homo- und transfeindliche Gewalt zwar tatsächlich im öffentlichen Raum erfahren, doch diese Gefahr sämtliche Räume umfasst, ob U-Bahn oder Straße oder eben Parks. Es ist daher wichtig, vom Senat verstetigte Mittel für Gewaltprävention und Schutzmaßnahmen einzufordern.
In einem anschließenden Workshop wurden Ideen gesammelt: Um aus dem Angstraum Park wieder einen Ort zu machen, an dem sich alle wohlfühlen, sollte der Görli gerade nicht umzäunt, sondern vielmehr weiter geöffnet werden. Momentan gibt es nur wenige Ein- und Ausgänge, der Park ist unübersichtlich, besonders für Menschen, die sich nicht so gut auskennen. Ein ent—zäunter Park hingegen kann schon von außen ein Bild eines wirklich offenen öffentlichen Raums für alle ausstrahlen, den man jederzeit betreten, aber auch wieder verlassen kann.
Indem FLINTA* den Park stärker nutzen, gemeinsam Aktivitäten organisieren und dazu einladen, können sie (wir) den Park zurückerobern. Das zusammen mit allen Anwohner:innen zu erreichen, die den Raum meiden, weil sie Angst haben, sollte eines unserer Ziele sein. Statt angstbesetzte Geschichten aus dem Park zu erzählen, die es durchaus gibt und die ernst genommen werden müssen, sollten wir auch die positiven Geschichten aus dem Görli erzählen. Die gibt es nämlich auch.
Ein Treffpunkt der Community – Ein Treffpunkt für alle
Auf die positiven Geschichten aus dem Görli verwies auch Moro Yapha, Fürsprecher für Migration und Menschenrechte und interkultureller Mediator, der mit und in der Schwarzen Community im Park arbeitet. Er betonte, dass der Görli nicht nur einen wichtigen Treffpunkt für die Black Community darstellt, sondern auch unter interkulturellen Aspekten ein wichtiger Ort ist. Er verfügt daher über besonderes Potenzial als sozialer, interkultureller und gemeinschaftlicher Begegnungsraum.
An wenigen Orten Berlins werden so viele Sprachen gesprochen, kann man so viele unterschiedliche Gerichte von den verschiedenen Straßenverkäufer:innen probieren und so viele unterschiedliche Menschen kennenlernen, so Yapha. Diese positiven Aspekte dürfen wir in unseren Erzählungen nicht vergessen, denn alle können davon profitieren.
Innerhalb der Schwarzen Community hat sich zudem ein gutes Netzwerk etabliert: für Menschen, die neu ankommen, aber auch für gegenseitige Hilfe, da der Community-Gedanke und die geteilten Werte und Vorstellungen eine besondere Rolle spielen.
Moro Yapha betonte aber auch, dass die Community nicht allein gelassen werden darf: Die Lebensumstände für Schwarze Menschen müssen verbessert werden, um den aktuell auch innerhalb der Community steigenden Konsum illegalisierter Drogen wieder zu reduzieren. Da hier die eigenen Unterstützungsmöglichkeiten begrenzt sind, braucht die Community Unterstützung von außerhalb, z.B. in Form von Harm Reduction und psychologischer Hilfe.
Und immer wieder Drogen
Zum Thema Drogenkonsum, Drogenhandel und Interessenskonflikte im Park sprachen auch Astrid Leicht, Geschäftsführerin von Fixpunkt e. V., und Dirk Schäffer von der Deutschen AIDS-Hilfe, Referent für Drogen und Strafvollzug und selbst ehemaliger Konsument, der sich im Netzwerk JES (Junkies, Ehemalige, Substituierte) engagiert. Auch sie waren sich darin einig, dass es für so eine vielschichtige Situation wie im Görli keine einfache und schnelle Lösung gibt – aber auch darin, dass schon vieles auf den Weg gebracht wurde.
Astrid Leicht verwies auf das Handlungskonzept zum Görlitzer Park, das bereits 2015 gemeinsam von Mitarbeiter:innen der Bezirksverwaltung und sozialer Einrichtungen sowie Vertreter:innen der Zivilgesellschaft erarbeitet wurde. Dieses abgestimmte Maßnahmenkonzept, das unter anderem die Ideen zu Parkläufern und Parkrat sowie ein Reinigungskonzept der BSR enthält, muss zwar aktualisiert werden, aber man kann sicher daran anknüpfen. Für Leicht war nicht nachvollziehbar, warum sich der Senat das Konzept nicht einmal angesehen hat. Statt nun zu repressiven und vermeintlich schnellen Maßnahmen zu greifen, müssen jetzt z.B. die Praktiker-Runden im Görli miteinbezogen und auch geprüft werden, was denn an vergleichbaren Orten wie dem Leopoldplatz gut funktioniert.
Dirk Schäffer ergänzte, dass die Probleme im Görli zwar nicht einfach, aber auch nicht Berlin-spezifisch sind und sich der Blick nach Hamburg oder in die Schweiz lohnt. Wichtig ist zudem, auch die Betroffenenperspektive einzunehmen: Der Görli ist neben dem Grünraum für Anwohner:innen auch ein Sozialraum für Drogenkonsument:innen. Viele von ihnen leben allein in kleinen Wohnungen, in Gemeinschaftsunterkünften oder auf der Straße. Sie haben daher sonst kaum Räume, an denen sie sich treffen können. Einrichtungen für Drogenkonsument:innen haben meist nur kurze Öffnungszeiten und keine Aufenthaltskonzepte, denn sie sind lediglich für den kurzen Konsum ausgelegt. Der Görli wird so auch zum Ausruhen, Konsumieren, Schlafen und Treffen genutzt. Der zunehmende Konsum von Crack verändert die Situation nochmal: Crack wird in kürzeren Abständen und damit vermehrt in der Öffentlichkeit konsumiert.
Daher braucht es, so Schäffer, vor allem Aufenthaltsmöglichkeiten tagsüber: Tagesbetten und Safe Spaces/ Aufenthaltsräume für Konsument:innen, an denen Konsum und Verkauf toleriert wird. Die Kriminalisierung illegalisierter Drogen gehört ernsthaft auf den Prüfstand – die Prohibition ist gescheitert. Die Konsument:innen werden durch gestreckten Stoff immer kränker, es gibt immer mehr, immer billigere und immer gefährlichere Drogen und die Inhaftierung der Konsument:innen ist ohnehin nicht zielführend. Stattdessen sollten über einen regulierten Zugang zu Drogen nachgedacht und die Verkäufer:innen in das Parkleben und die Parkgestaltung eingebunden werden – mit all ihren Kompetenzen.
Fazit & Forderungen – soziale Lösungen für soziale Konflikte
-
Die Situation ist vielschichtig und komplex, es gibt keine schnellen und einfachen Lösungen
-
Die Situation im Görli darf nicht nur unter dem Aspekt Kriminalität/Sicherheit betrachtet werden, sondern auch unter medizinischen, sozialen, stadtplanerischen, feministischen, sozialwissenschaftlichen, verkehrspolitischen, ökologischen, interkulturellen Aspekten
-
Es gibt viel Vorarbeit, viele Erfahrungen aus den letzten Jahren im Görli, in Berlin, in anderen deutschen Städten und in der Schweiz. Davon können wir lernen
-
Crack verändert die Situation, deshalb müssen Konzepte angepasst werden: z. B. mit dem Ausbau von Anlaufstellen und Konsummöglichkeiten (24/7), Tagesbetten/Tagesruhestätten, Originalstoffabgabe wie in der Schweiz geplant und Investitionen in Forschung
-
Der Görli ist ein wichtiger Sozialraum für viele Gruppen. Alle Bedürfnisse müssen mitgedacht werden, nicht nur das „bürgerliche, subjektive Sicherheitsgefühl“, sondern auch die Bedürfnisse der Schwarzen Community, von Flintas/Queers, älteren Leuten, Kindern, Drogenkonsument:innen, obdachlosen Menschen etc.
-
Es braucht mehr (günstigen) Wohnraum (nicht nur) für obdachlose Menschen
-
Der Görli muss für alle ein öffentlicher Raum bleiben, der von allen gerne genutzt wird
-
Der Görli darf kein Angstraum sein: Es braucht die Öffnung nach außen, Anlaufpunkte, bessere Beschilderung, Licht und Einsicht in Verkehrswege. Aber „kein Angstraum“ muss auch für Tiere und Pflanzen gelten – soziale und ökologische Interessen müssen zusammen gedacht, Rückzugs- und Schutzräume und -zeiten für Flora und Fauna geschaffen werden
-
Es braucht positive Geschichten und Verknüpfungen mit dem Görli, die einer einseitigen und damit unangemessenen Risikoerzählung entgegenstehen
-
Angst muss jedoch ernst genommen und der Görli solidarisiert und belebter werden: durch gemeinsame Nutzung, mehr Parkläufer:innen, mehr Blick füreinander und Offenheit nach außen
-
Drogen werden nicht verschwinden, aber es kann helfen, mehr Aufenthaltsplätze für Konsument:innen zu schaffen, an denen sie sich treffen, ausruhen (Tagesbetten) und konsumieren können – statt im öffentlichen Raum, Wohngebiet, Hausflur; der Handel müsste zumindest toleriert werden
-
Drogenhilfe und medizinische Versorgung müssen unabhängig von Aufenthaltsstatus und Sprache verfügbar sein
-
Der Zugang zu legaler Beschäftigung für geflüchtete Menschen muss ermöglicht werden, um Alternativen zum Drogenhandel zu schaffen
Wir hatten echt viele spannende Diskussionen und haben in einer angenehmen und solidarischen Situation (auch kontrovers) diskutiert.
Schade, dass Herr Wegner und Frau Spranger sowie die meisten Abgeordneten unserer Einladung nicht gefolgt sind.
—
1 Tatsächlich wird in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) nur der Verdacht auf eine Straftat festgehalten. Wie viele Straftaten tatsächlich stattfanden, wird statistisch nicht erhoben. Insofern ist die PKS eher eine Statistik über die Arbeit der Polizei als ein Abbild der Kriminalität.
2 Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nicht-binäre, transgeschlechtliche, agender u.a. Personen